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Das Konzessions-Diplom König Friedrich Wilhelms II. von 1788 an Charlotte Helene von Lestwitz

Das Konzessions-Diplom König Friedrich Wilhelms II. von 1788 an Charlotte Helene von Lestwitz und die Herrschaft Friedland im Oberbarnim

Heinrich Kaak

Im Geschehen um die Herrschaft Friedland im alten kurbrandenburgischen Kreis Oberbarnim am mittleren Oderbruch spiegelt sich die Geschichte märkischen Großgrundbesitzes zweifach schlüsselartig wider. Adelsfamilien verwiesen sehr gern darauf, schon seit Jahrhunderten auf ihrem Gut oder ihrer Herrschaft ansässig zu sein. Auch wenn sich dies als wesentlicher Zug des Allgemeinbildes von Adelsexistenz verbreitet hat, offenbart sich bei näherer Betrachtung, dass es kaum den Normalfall darstellte. Gerade Friedland wechselte mehrfach den Besitzer beziehungsweise die Besitzerin und geriet dabei sukzessive unter alle maßgeblichen in Brandenburg vertretenen herrschaftlichen Autoritäten. Eng damit verwoben ist das Eingreifen dreier preußischer Könige in deren persönliche Existenzverhältnisse. Das Konzessions-Diplom König Friedrich Wilhelms II. von Preußen zeigt dabei als besondere Schlüsselquelle, unter welchen Maßgaben der Monarch der geschiedenen Adeligen Charlotte Helene, geborene von Lestwitz, gestattete, den Namen ihres früheren Ehemanns abzulegen und denjenigen der gerade in ihren Besitz übergehenden Herrschaft Friedland für sich und ihre Tochter anzunehmen.[1]

Vom Kloster zur Adelsherrschaft

Entstanden ist die Herrschaft Friedland aus dem Zisterzienserinnenkloster Alt-Friedland, das, nach 1230 gegründet, 1275 erstmals urkundlich erwähnt und 1546 säkularisiert wurde.[2] Dies war nicht ungewöhnlich, ging doch eine große Zahl von Klöstern im Zuge der Reformation nach einem temporären Verbleib in kurfürstlicher Hand in den Adelsbesitz über. Kurfürst Joachim II. von Brandenburg gab Friedland zunächst als Pfand an verschiedene Adelige, bevor er es 1564 an den Feldmarschall Joachim von Roebel (1515–1572) veräußerte. Hiermit wurde der Besitz Adelsherrschaft und gelangte in der Erblinie schließlich an Johann [Hans] Joachim von Roebel (1663–1717).[3]

Zu der ansehnlichen Herrschaft gehörten 1564 als zentraler Bestandteil die ehemaligen Flächen und Einrichtungen des Klosters und der Probstei Friedland. Dazu kamen die Dörfer Barnim, Metzdorf, Lüdersdorf, Biesdorf, Gersdorf, Bollersdorf, Kleinbarnim im Oderbruch und Batzlow sowie die Lapnow-, Batzlow-, Dornbusch- und Dammühle, die Seen bei Tornow, Pritzhagen und Buckow und der Weinberg bei Wriezen.[4] Bereits der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm versuchte 1685, den Herren von Roebel die Herrschaft wieder zu entziehen, konnte aber mit der Begründung, dass Lehnsfehler begangen worden seien und Lehnsgelder ausständen, die Rückgabe nicht durchsetzen. Auch Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg blieb darin einige Jahre später erfolglos. Als Hintergrund seines Vorstoßes deutet sich an, dass er sich gerade um Kompensation der von seinem Vater verfügten und von ihm verhinderten Landeshoheit seiner Halbbrüder bemühte.[5] So war gerade der spätere Herrenmeister des Johanniterordens Markgraf Albrecht Friedrich von Brandenburg-Sonnenburg, ein Sohn des Großen Kurfürsten aus zweiter Ehe, als Erbe des von seiner Mutter Dorothea erworbenen benachbarten Quilitz (heute Neuhardenberg) sehr an Friedland zur Besitzabrundung interessiert.

Friedland als markgräfliches Amt

Erst als König Friedrich I. in Preußen zog der frühere Kurfürst in Folge eines Aberkennungsprozesses die Herrschaft 1711 ein. Jetzt wurde sie auf fünf Jahrzehnte markgräfliches Amt, das heißt Lehnsbesitz einer Nebenlinie der Hohenzollern in männlicher Erbfolge. Dem Markgrafen Albrecht Friedrich folgte von 1731 bis 1762 sein Sohn Karl Albrecht, der seinen Generalpächter Friedrich Wilhelm Jeckel von 1754 bis 1760 mit fünf Koloniedörfern und Vorwerken an der Besiedlung des Oderbruchs teilhaben ließ. Der an den Folgen einer Verwundung aus dem Siebenjährigen Krieg verstorbene Markgraf hinterließ keine männlichen Nachkommen, sodass Quilitz und Friedland an die Landesherrschaft zurückfielen.[6]

Kunersdorf-Friedland vom königlichen Amt in Adelshand zur erneuten Adelsherrschaft

Die Ämter wurden sodann getrennt zwei hochverdienten Offizieren des Siebenjährigen Krieges, Hans Sigismund von Lestwitz und Joachim Bernhard von Prittwitz, verliehen. Dies zeigt aufs Neue, welche besondere Gnade die Könige bisweilen mit der Übertragung von Grundbesitz übten. Lestwitz – bereits nach der Schlacht bei Lobositz 1756 mit dem Orden Pour le Mérite ausgezeichnet – wurde 1763 dafür belohnt, in einer militärisch hochkritischen Zeit bei Torgau 1760 als Befehlshaber der Reserve Maßnahmen ergriffen zu haben, die maßgeblich dazu beitrugen, die bereits verloren geglaubte Schlacht siegreich zu entscheiden (Friedrich II.: Lestwitz a sauvé l’état.). Als Lestwitz 1765 zusätzlich das benachbarte Gut Kunersdorf erwarb, wurde Friedrich II. darauf aufmerksam. Er wolle seiner Tochter Charlotte Helene (geb. 18. November 1754, gest. 23. Februar 1803)[7] als seinem einzigen Kind ein standesgemäßes Erbe sichern, so die Lestwitzsche Antwort, die den König veranlasste, den Status des formal noch immer königlichen Amtes Friedland zum Jahr 1769 in eine Adelsherrschaft mit auch weiblicher Erbfolge umzuwandeln. Von 1771 bis 1773 ließ Lestwitz gleichwohl das bis 1945 bestehende Schloss Kunersdorf errichten, wohin er sich nach Ausscheiden aus dem Dienst 1779 zurückzog.[8]

Ebenfalls ungewöhnlich war bis dahin, dass die mit knapp 17 Jahren verheiratete Tochter Charlotte Helene gleich nach der 1772 erfolgten Geburt ihrer Tochter nach Hause zurückkehrte, da sich die Ansichten der Partner über das Eheleben als unvereinbar erwiesen hatten. Sie war jetzt geschiedene Mutter, die nicht wieder heiratete, und zugleich angehende Erbin eines größeren Latifundiums. Eine weitere Entscheidung von großer Bedeutung, die im Folgenden als Schlüsselquelle betrachtet werden soll, stand sogar noch aus.

Das Konzessions-Diplom

Spätestens aus Anlass des Todes von Hans Sigismund von Lestwitz am 16. Februar 1788 muss sich seine Frau Catharina Charlotte, geborene von Treskow (1734–1789), bei König Friedrich Wilhelm II. um die Namensänderung ihrer Tochter bemüht haben. Im Concessions=Diploma vom 3. März 1788 als Bittstellerin genannt, hatte sie vermutlich die Traueranzeige mit diesem Gesuch verbunden. Vom König wurde die außergewöhnliche Maßnahme, den Namen und das Wappen des Mannes, von dem sie seit 1772 schuldlos geschieden war, abzulegen und für sich und ihre Tochter Henriette Charlotte den Namen ‚von Friedland‘ anzunehmen, umgehend bewilligt.

Das im GStA PK befindliche Diplom besteht aus sechs Seiten und ist, in rotes Leder gebunden, schlicht und zugleich bedeutungsvoll gestaltet. Die erste, kalligrafisch reich verzierte Seite beginnt mit dem Wir Friderich Wilhelm von Gottes Gnaden König von Preußen, worauf über eine halbe Seite lang die Aufzählung der Herrschaftstitel folgt. Hierin gleicht die Verfügung einem Erlass. Der König tut sodann aus dem Wunsch heraus, Unserer getreuen Vasallen und Unterthanen Bestes und Wohlergehen auf alle Weise zu befördern und zu vermehren, kund, dem Begehren der verwittweten GeneralMajorin stattzugeben. Aus der zweiten Seite der Verfügung geht klar hervor, dass Charlotte Helene von der Achtung profitierte, die ihr Vater in der Erinnerung der Dynastie weiterhin genoss. Noch als Christian Daniel Rauch von 1839 bis 1851 das Reiterstandbild Friedrichs des Großen schuf, gehörte Hans Sigismund von Lestwitz an vorderster Stelle zu den in die Gestaltung einbezogenen Personen.

Auf der dritten Seite wird die Pflicht von Mutter und Tochter dargelegt, sich in allen ihren Schrifften, Reden, Tituln, Innsiegeln, Pethschafften, Handlungen und Geschäfften, nichts davon ausgenommen, nur noch des neuen Namens von Friedland zu bedienen. Dem folgt auf derselben und der vierten Seite die Freyheit, dass sie sich des lestwitzschen Wappen unter gänzlicher Weglaßung des Borckeschen Wapens bei allen ehelichen und adelichen Sachen und Geschäfften, Innsiegeln [...] bedienen und gebrauchen sollen und moegen. Auf der vierten und fünften Seite wird das alte Lestwitzsche und zugleich neue Friedländische Wappen detailliert beschrieben und auf der sechsten und letzten Seite bestätigt, dass der König dieses Diploma Höchsteigenhändig unterschrieben, und Unser Königlich größeres Innsiegel daran hängen laßen. Als Datum der Unterschrift folgt ein Tag nur zwei Wochen nach dem lestwitzschen Tod.

Wenn die adlige Antragstellerin ihr Gesuch allerdemüthigst vortrug, unterstreicht dies, dass diese Angelegenheit beileibe keine Formsache war. Der König handelte ihr gegenüber aus Macht und Vollkommenheit und zugleich wissentlich und wohlbedächtig. Die denkbare Überlegung des Königs und seiner Berater, dass Henriette Charlotte den Namen nicht weiter vererben würde, mag dazu beigetragen haben, die Konzession zu erteilen. Für Mutter und Tochter dürfte es gleichwohl eine hohe Bedeutung gehabt haben, unter dem Namen ihrer Herrschaft tätig zu sein.

Kunersdorf-Friedland als reformorientierte Adelsherrschaft

Nach der Übernahme Friedlands stand Charlotte Helene vor ihrer großen Aufgabe. Auf Grund des ländlichen Rechts gebot sie als Gutsherrin über zwölf Dörfer (inklusive Kunersdorf) mit einer Gesamtfläche der Fluren von über 21.000 Morgen (gut 5.000 Hektar). Dies ging mit Rechten über den Personenstatus und Besitz der Untertanen, mit dem Anspruch auf ihre Dienstleistungen und Abgaben, mit der Obliegenheit, ihnen den Heiratskonsens zu erteilen, aber auch der Pflicht, sie in der Not zu unterstützen, einher. Zugleich war sie Kirchen- und Schulpatronin, Inhaberin der Rechtsprechung und der obrigkeitlichen Gewalt sowie zuständig für die Einziehung und Weiterleitung der Steuern, für Volkszählungen, den Zustand der Wege in der Herrschaft und anderes mehr. Dazu kam die Teilnahme an den Versammlungen der Oberbarnimschen Kreisstände. Nicht zuletzt führte sie zunächst drei und am Ende sechs Eigenbetriebe. Die agrarische Oberaufsicht nahm sie bevorzugt vom Sattel aus wahr.

Bereits lange vor der Herrschaftsübernahme 1788/89 hatte sie sich für landwirtschaftliche Fragen zu interessieren begonnen und wurde, durch Tun ständig dazulernend, als die wohl kompetenteste Agrarreformerin ihrer Zeit in Preußen bekannt. Ebenso wenig wie ihr Vater gab sie Friedland in Generalpacht. Ihr zur Seite stand bei der Organisation des Agrarwesens der Administrator Carl Gottlieb Huss (1730–1801), der bereits an der Wirtschaft ihres Vaters zentral mitgewirkt hatte. Wenn sie ihren Schmuck verkaufte, um Investitionen zu tätigen, zeigt dies ihr konsequentes ökonomisches Denken. Sie begann das Herrschaftsgebiet neu durchzustrukturieren, indem sie aus Feuchtgebieten Wiesen, aus Wiesen Weiden und aus Weiden Acker machen ließ. Sie versammelte die Frauen und Mädchen ihrer Herrschaft, stattete sie mit Kienäpfeln zur Pflanzung aus und sorgte so dafür, dass an höhergelegenen weniger für den Ackerbau geeigneten Stellen Waldreviere zum Windschutz entstanden. Ihrem Nachbarn Friedrich August Ludwig von der Marwitz brachte sie nach dessen Aussage die Buchführung und andere agrarische Kenntnisse bei. 1799 erhielt sie in Friedland Besuch von Albrecht Daniel Thaer, dem bekanntesten deutschen Agrarformer dieser Zeit, der von ihrer Tätigkeit hoch beeindruckt war.[9] In diesem Jahr nahm sie die Veredelung der Schafzucht auf. Obwohl sie, wie aus Briefen ihrer Tochter hervorgeht, nur ungern reiste,[10] verbrachte sie die Wintermonate öfter in Berlin. Dies geschah in einer Wohnung im Haus des Berliner Verlegers und Aufklärers Christoph Friedrich Nicolai. Hier partizipierte sie an den wegweisenden Debatten der Zeit, was sicher dazu beitrug, dass sie zum Beispiel für die verbesserte Bildung ihrer Untertanen sorgte und dass sie selbst aus dem Kreis ihrer Untertanen die leitenden Kräfte auf ihren Betrieben heranbildete. Sie erwarb das Meisterrecht im Müllergewerbe und übernahm die Leitung der Dammmühle bei Friedland. Wie ihre Prozessfreudigkeit um die Höhe von Diensten zeigt, ging sie bei aller Reformbereitschaft indes grundsätzlich autoritär vor. Sich selbst sah sie als ‚Mutter‘ ihrer Untertanen.[11]

Als Agrarpionierin war sie das große Vorbild ihrer Tochter Henriette Charlotte. 1772 geboren, wurde diese streng, aber zugleich fürsorglich erzogen. Mit ihrem Ehemann Peter Alexander von Itzenplitz erwarb sie auf ihrer Hochzeitsreise nach Holland und England 1792/93 zusätzliche landwirtschaftliche Kenntnisse und schloss wichtige Bekanntschaften. Bei den Veranstaltungen in London (unter anderem Parlamentseröffnung und Kontakte zur Königsfamilie) und den Besuchen auf den Landsitzen des englischen Adels halfen ihr die profunde standesgemäße Erziehung und die französischen Sprachkenntnisse. Der Briefwechsel mit der Mutter gegen Ende der Reise zeigt, dass sie ein hohes Durchhaltevermögen entwickelt hatte. Dieses hielt sie auch während ihrer Schwangerschaft sowie nach der Geburt ihres ersten Sohnes in England stets aufrecht. In ihrer Strenge – auch gegen sich selbst und später ihre Kinder – übertraf sie ihre Mutter noch. Zunächst auf Groß Behnitz im Havelland einen Rückstand in der Agrarentwicklung reformerisch aufholend, begann sie dort mit Meliorationen wie der Einführung des Rotklees sowie Experimenten mit dem Runkelrüben- und dem Rapsanbau.[12] Von 1799 bis 1801 trat sie in einen Briefwechsel mit Albrecht Daniel Thaer, der an seine Frau bewundernde Briefe über das junge Paar und insbesondere die Gutsherrin (die alltäglichste Weltfrau) schrieb.[13] Beiträge in den Annalen des Agrarreformers wurden von ihr anonym publiziert.

Kunersdorf-Friedland als Anziehungspunkt für Gelehrte und Künstler

Im Frühjahr 1803 traten Henriette Charlotte und ihr Mann in Friedland das Erbe einer nach dem Stand der Zeit hervorragend entwickelten Herrschaft an. Die Mutter hatte sich in einer Januarnacht während ihrer Einsatzleitung beim Brand eines ihrer Dörfer eine Lungenentzündung zugezogen, an der sie mit 48 Jahren am 23. Februar des Jahres gestorben war. Friedrich Wilhelm August Bratring unternahm seine Recherchen für die ‚Beschreibung der Mark Brandenburg‘, was den Oberbarnim betrifft, exakt in dieser Zeit und differenzierte dabei fein. Hinsichtlich des Besitzes Kunersdorf-Friedland gab er für zwölf von jetzt 13 Dörfern, Vorwerken und Kolonien den Land=Rath v. Itzenplitz auf Groß=Bähnitz, also Peter Alexander von Itzenplitz als Gutsherrn an. Für Friedland im engeren Sinne – also das Dorf Alt-Friedland mit zwei Gütern und 390 Einwohnern – benannte er die Landräthin von Itzenplitz, geb. v. Friedland zu Bähnitz.[14] So blieb der von der Großmutter erbetene Name auch in dieser Form erhalten.

Vom Großvater bis zur Enkelin verläuft eine sich vertiefende Kontinuität der Einladungen auf das Schloss Kunersdorf an Offiziere und hohe Verwaltungsangehörige, an Agrarfachleute und Gartenbauspezialisten bis hin zu Vertretern der Aufklärung sowie gestaltenden Künstlern und Dichtern. Zu Ersteren gehörten Kriegskameraden des Großvaters wie der Nachbar Joachim Bernhard von Prittwitz. Zur Zeit der Tochter Charlotte Helene kamen Agrarreformer wie Albrecht Daniel Thaer und Curd Joachim von Mandelsloh sowie Gutsherren wie Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Durch ihre Aufenthalte im Nicolaischen Haus hatte sie Kontakte zu dem Altphilologen Philipp Buttmann, dem Astronomen Johann Elert Bode, dem Schriftsteller Johann Jakob Engel, dem Theologen Johann Spalding, dem Popularphilosophen Johann Erich Biester und nicht zuletzt dem Verleger und Schriftsteller Friedrich Nicolai selbst.[15] Es gehörte für viele Angehörige des gebildeten Berlins offenbar dazu, in Kunersdorf gewesen zu sein. Unter den weiteren Besuchern der Enkelin Henriette Charlotte waren der Sprachwissenschaftler Wilhelm und sein Bruder, der wissenschaftliche Forschungsreisende Alexander von Humboldt, der Historiker Leopold von Ranke, der Jurist Carl Friedrich von Savigny sowie die Bildhauer Johann Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch. Zu den Letztgenannten gehörte auch Adelbert von Chamisso, der vor den Ereignissen von 1813 bis 1815 nach Kunersdorf auswich, um dort pflanzenkundliche Experimente durchzuführen und sich begleitend dichterisch zu betätigen; hier entstand ‚Peter Schlemihls wundersame Geschichte‘. Die Herrschaft beherbergte eine der größten, wenn nicht die größte in drei Generationen gewachsene Gutsbibliothek Brandenburgs. Noch heute sind davon 4.000 Bücher im Museum Viadrina Frankfurt/Oder und mehrere Hundert Bände im Oderlandmuseum Bad Freienwalde vorhanden, die auch Notizen von Mutter und Tochter enthalten. Albrecht Daniel Thaer empfahl seinen Schülern die Nutzung dieser Bibliothek.[16]

Die Prominentenbesuche in Kunersdorf haben dazu beigetragen, dass der Adelssitz sich auch im Kreis der Musenhöfe wiederfand. Diese Bezeichnung galt in der Frühen Neuzeit für fürstliche Stätten zur Aufnahme berühmter Künstler und der Förderung ihrer Tätigkeit. Herzogin Anna Amalia in Weimar ist dafür vielgenanntes Beispiel. Auf Kunersdorf bezogen ist dieser Gedanke indes nicht unwidersprochen geblieben. Als Gegenposition wird vorgetragen, dass zwar bei Zusammenkünften in Kunersdorf Gäste der bildenden Kunst, der Literatur, der Philosophie und der Politik begrüßt wurden. Über die Häufigkeit solcher Veranstaltungen aber sei nichts belegt und den drei Friedländer Persönlichkeiten sei es in erster Linie um die Entwicklung der Landwirtschaft und der dörflichen Bevölkerung gegangen.[17] Heute stellt sich Kunersdorf in der Tradition eines Musenhofes dar. Mit dem Chamisso-Museum in der ehemaligen Dependance des Schlosses, der Schinkelkirche und der Grabkolonnade (‚Erbbegräbnis‘) ergibt sich ein Eindruck von der hochinteressanten Geschichte des Ortes.


[1] GStA PK, VI. HA, Familienarchiv von Oppen, Nr. 622: Konzessions-Diplom König Friedrich Wilhelms II. von 1788 an Charlotte Helene von Lestwitz, geschiedene von Borcke, und ihre Tochter Henriette Charlotte von Borcke, verheiratete von Itzenplitz.

[2] Matthias Friske/Christian Gahlbeck, Altfriedland Zisterzienserinnen, in: Heinz-Dieter Heimann u. a. (Hrsg.), Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (Brandenburgische Historische Studien, Bd. 14), Bd. 1, Berlin 2007, S. 72–88, hier S. 74f.

[3] Rudolf Schmidt, Die Herrschaft Friedland. Nachrichten zur Geschichte von Alt- und Neufriedland, Gottesgabe […], Bad Freienwalde 1928, S. 18f.

[4] Brandenburgisches Landeshauptarchiv [im Folgenden: BLHA], Rep. 37 Adlige Herrschaften und Güter, (Alt)-Friedland, Kreis Oberbarnim, Nr. 282 (Besitzgeschichte).

[5] Linda Frey/Marsha Frey, Friedrich I. Preußens erster König [aus dem Amerikanischen übersetzt], Graz/Wien/Köln 1984, S. 38 und 49f. Siehe dazu auch Frank Göse, Friedrich I. Ein König in Preußen (1657–1713), Regensburg 2013, S. 78 und 113f.

[6] Schmidt, Die Herrschaft Friedland [wie Anm. 3], S. 27–30.

[7] Im Konzessions-Diplom wird sie Charlotte Helene genannt, auf ihrem Grabstein Helene Charlotte.

[8] Bernhard von Poten, Lestwitz, Hans Sigismund von, in: Allgemeine Deutsche Biographie 18 (1883), S. 457f.

[9] Wilhelm Körte, Albrecht Thaer. Sein Leben und sein Wirken, als Arzt und Landwirth, Wiesbaden 1839, S. 157.

[10] Heinrich Kaak, Die Englandbriefe der Henriette Charlotte und des Peter Alexander von Itzenplitz. Einleitender Kommentar, in: Stefan Lindemann/Heinrich Kaak (Hrsg.), Ich gestehe, daß ich mich sehr bestimmt auf diese Reise freue … Die Englandbriefe des märkischen Ehepaars von Itzenplitz 1792/93, Berlin 2023, S. 11–44.

[11] BLHA, Rep. 37 (Alt)-Friedland, Nr. 282 [wie Anm. 4], Bl. 130.

[12] Heide Inhetveen/Heinrich Kaak (Hrsg.), Ich ergreife mit vielen Vergnügen die Feder. Die landwirtschaftlichen Briefe der Henriette Charlotte von Itzenplitz an Albrecht Daniel Thaer um 1800, Kunersdorf 2013, S. 32f. und S. 42f.

[13] Zitiert nach Walter Simons, Albrecht Thaer. Nach amtlichen Quellen und privaten Dokumenten aus einer großen Zeit. Gedenkschrift der Gesellschaft für Geschichte und Literatur der Landwirtschaft zum 100. Todestage Thaers, Berlin 1929, S. 64.

[14] Friedrich Wilhelm August Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung der gesamten Mark Brandenburg, kritisch durchgesehene und verbesserte Neuausgabe von Otto Büsch und Gerd Heinrich, mit einer biographisch-bibliographischen Einführung und einer Übersichtskarte von Gerd Heinrich, Berlin 1968, S. 774 beziehungsweise verteilt auf S. 768–788.

[15] Theodor Fontane, Notizbücher. Digitale genetisch-kritische und kommentierte Edition, hrsg. von Gabriele Radecke, https://fontane-nb.dariah.eu/index.html [abgerufen am: 17. Januar 2024], S. 7.

[16] Albrecht Thaer, Geschichte meiner Wirtschaft zu Möglin, Berlin 1815, S. 346.

[17] Heide Inhetveen, ‚In höchster Eil‘. Die Frauen von Friedland im Spiegel ihrer landwirtschaftlichen Korrespondenz, in: Reinhard Blänkner/Wolfgang de Bruyn (Hrsg.), Salons und Musenhöfe. Neuständische Gesellschaft in Berlin und in der Mark Brandenburg um 1800, Hannover 2009, S. 145–173, hier S. 170.