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Die Kirchenordnung Joachims II. von 1540

Die Kirchenordnung Joachims II. von 1540

 

Andreas Stegmann

 

Zur Quellengattung »Evangelische Kirchenordnungen«

Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts sind eine zentrale reformationsgeschichtliche Textgattung. Im Zuge der reformatorischen Neuordnung des territorialen oder lokalen Kirchenwesens von Theologen zusammengestellt und von den weltlichen Obrigkeiten erlassen, machen sie grundlegende Vorgaben für die Organisation, Lehre und das Leben der im Sinne der Reformation umgestalteten Kirche. In der Regel gehört der Erlass einer Kirchenordnung zu den ersten Ordnungsmaßnahmen im Zusammenhang der Einführung der Reformation. Dabei wurden in der Regel zuerst einzelne Regelungen für drängende Probleme (Kirchenfinanzen, Armenfürsorge u.a.) getroffen und später, zum Teil als Kodifizierung bereits umgesetzter kirchlicher Veränderungen umfassendere Ordnungen erlassen.

Die Entstehung der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540

Auch im Kurfürstentum Brandenburg gehört die im Sommer 1540 erschienene Kirchenordnung zu den Maßnahmen, mit denen 1539/40 die Erneuerung der märkischen Kirche im Sinne der Wittenberger Reformation begann. Seit seinem Regierungsantritt 1535 hatte Kurfürst Joachim II. die Einführung der Reformation vorbereitet. Den Auftakt markierte am 1. November 1539 die erste offizielle evangelische Abendmahlsfeier, der bereits im September die erste offizielle evangelische Predigt vorangegangen war. Um den durch diese beiden grundlegenden Akte gemachten Anfang in feste Strukturen zu überführen und die im Zuge der Einführung der Reformation geschaffene märkische Landeskirche zu ordnen, erarbeitete eine kurfürstliche Kommission von Herbst 1539 bis Frühjahr 1540 eine Kirchenordnung.

Führend beteiligt an der Erstellung der Ordnung waren der evangelische Hofprediger Jakob Stratner und der evangelische Berliner Propst Georg Buchholzer. Beide orientierten sich an den Vorgaben des Kurfürsten, der auch selbst einige Abschnitte der Ordnung konzipierte und die Einleitung eigenhändig verfasste. Wie üblich, wurde als Muster eine vorhandene Kirchenordnung zugrunde gelegt: in diesem Fall die Brandenburgisch-Nürnbergische Kirchenordnung, die im Auftrag Markgraf Georgs von Brandenburg-Ansbach und der Reichsstadt Nürnberg 1533 von Nürnberger Theologen erstellt worden war. Die Kommission übernahm weite Teile dieser Vorlage, veränderte und ergänzte die übernommenen Texte allerdings an einigen Stellen. Für den Katechismus griff die Kommission auf die der Brandenburgisch-Nürnbergischen Kirchenordnung beigegebenen Katechismuspredigten Andreas Osianders zurück. Einige Passagen der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 (vor allem im dritten Hauptteil) greifen auch auf andere vorhandene Ordnungen zurück (mittelalterliche liturgische Ordnungen, Unterricht der Visitatoren von 1528, Herzoglich-Sächsische Kirchenordnung von 1539), übernehmen Zuarbeiten Fürst Georgs III. von Anhalt oder wurden eigens von der Kommission verfasst.

Ende November 1539 lag ein erster Entwurf der Ordnung vor, der die umfangreichen aus der Brandenburgisch-Nürnbergischen und Herzoglich-Sächsischen Kirchenordnung übernommenen Passagen des ersten und dritten Hauptteils sowie die von der Kommission für den dritten Hauptteil verfassten liturgischen Formulare umfasst haben dürfte. Dieser Entwurf wurde vom Kurfürsten den Wittenberger Theologen zur Begutachtung vorgelegt. Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen begrüßten die Neuordnung und waren grundsätzlich mit dem Entwurf einverstanden, benannten aber auch einige Kritikpunkte, die sich vor allem gegen traditionalistische Elemente richteten. Durch die daraufhin erfolgte Überarbeitung und durch die in den ersten Monaten des Jahres 1540 nach und nach eingehenden Ergänzungen Georgs III. von Anhalt veränderte sich die Ordnung noch, vor allem die kritisierten traditionalistischen Elemente wurden weitgehend gestrichen.

Im März 1540 informierte der Kurfürst die kurmärkischen Stände über die Kirchenordnung, wobei es von Seiten der Prälaten Protest gab. Zwischen April und Juni 1540 wurde dann die Ordnung in der eigens dafür von Wittenberg nach Berlin verlegten Druckerei von Hans Weiß gedruckt, wahrscheinlich als erstes überhaupt in Berlin gedrucktes Buch. Die drei Hauptteile wurden separat gedruckt und weisen deshalb jeweils eine eigene Bogenzählung auf. Beim ersten und zweiten Hauptteil wurden im Druckprozess Druckfehler durch den ganzen oder partiellen Neusatz von Bögen beseitigt, ohne dass die fehlerhaften Bögen vernichtet wurden. Das führte dazu, dass beim Binden nebeneinander korrigierte und unkorrigierte Bögen Verwendung fanden und nicht alle Exemplare identisch waren.

Ende Juni oder Anfang Juli 1540 lagen die ersten gedruckten Exemplare vor und wurden verschickt. Bei den im Juli 1540 beginnenden Visitationen wurde die Ordnung den Kirchengemeinden übergeben und ihre Einhaltung eingeschärft. Bei den späteren Visitationen wurde die Einhaltung der Kirchenordnung von 1540 gefordert, was nicht nur ihre rechtliche Geltung belegt, sondern auch die sich entwickelnde religiöse Vielfalt an der kirchlichen Basis, die nicht immer den Vorgaben der Kirchenordnung folgte, auch wenn sie stets im Rahmen des innerhalb der lutherischen Konfessionskultur Möglichen blieb.

Bis zu ihrer Novellierung 1572 unter Kurfürst Johann Georg war die Kirchenordnung von 1540 die landesherrliche Vorgabe für Lehre, Organisation und Leben der Kirche im Kurfürstentum Brandenburg. Das Vorhaben Joachims II., in den 1550er und 1560er Jahren eine umfassende Revision der kirchlichen Ordnungen vorzunehmen und diese der in den 1540er Jahren entstandenen kirchlichen Wirklichkeit anzupassen, blieb in den Anfängen stecken, floss aber in die Revision der Kirchenordnung 1572 und den Erlass der Visitations- und Konsistorialordnung 1573 ein. So sind aus der Regierungszeit Joachims II. eine gedruckte Visitationsordnung für die Dörfer von 1558 sowie eine für den Druck vorbereitete, aber unveröffentlicht gebliebene Visitations- und Konsistorialordnung von 1561 bekannt. Zudem bemühte der Kurfürst sich in den 1560er Jahren um eine Abschrift des Originals des Augsburgischen Bekenntnisses, das wohl auch im Rahmen der Neufassung der kirchlichen Ordnungen den ihm gebührenden Platz erhalten sollte. Tatsächlich war das Augsburgische Bekenntnis seit 1540 der Sache nach das Bekenntnis der brandenburgischen Landeskirche, auch wenn es erst seit Anfang der 1550er Jahre offiziell als solches anerkannt wurde.

Der Inhalt der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540

Die Brandenburgische Kirchenordnung von 1540 gliedert sich in das Titelblatt mit dem kurfürstlichen Wappen, die kurfürstliche Vorrede, drei Hauptteile (1. Lehre, 2. Katechismuspredigten, 3. Zeremonien und Organisation), das kurfürstliche Schlusswort und die Bestätigung des Brandenburger Bischofs Matthias von Jagow.

Titelblatt und Vorrede (VD16 B 6909 A 1r–A 2v; EKO 3,39–42) machen deutlich, dass die Ordnung als landesherrliches Gesetz ergeht: Der Landesherr handelt als »christlicher Kurfürst« kraft religionspolitischer Verantwortung in einer Situation, in der die Papstkirche und das Reich nicht in der Lage sind, notwendige kirchliche Reformen vorzunehmen. Die Ordnung gibt vor, nur einige wenige Reformen innerhalb des herkömmlichen Kirchenwesens umzusetzen, faktisch handelt es sich bei ihr aber um eine umfassende Neuordnung im Sinne der Wittenberger Reformation, die in vielerlei Hinsicht mit der Tradition bricht. Das wird etwa an dem kurfürstlichen Bekenntnis in der Vorrede deutlich, das in enger Anlehnung an die reformatorische Rechtfertigungslehre den Glauben der märkischen Landeskirche definiert. Es wird auch daran deutlich, dass der Kurfürst ihm nach traditioneller Anschauung nicht zustehende Eingriffsrechte der Kirche gegenüber beansprucht und durch die Ordnung eine Landeskirche unter Leitung des landesherrlichen Kirchenregiments schafft.

Der erste Hauptteil (VD16 B 6909 C 1r–R 3v; EKO 11,141–171; EKO 3,42–50) entfaltet die im Bekenntnis der Vorrede verbindlich gemachte Lehre der märkischen Landeskirche, und zwar indem er die Lehraussagen der von führenden evangelischen Theologen verfassten Brandenburgisch-Nürnbergischen Kirchenordnung übernimmt. Dieser Teil gibt keinen thematisch erschöpfenden Überblick über die in der kurbrandenburgischen Landeskirche geltende Lehre, sondern konzentriert sich in Anlehnung an andere reformatorische Lehrzusammenfassungen auf rechtfertigungstheologisch zentrale Aussagenkomplexe: 1. Altes und Neues Testament, 2. Buße, 3. Beichte, 4. Gesetz, 5. Evangelium, 6. Kreuz und Leiden, 7. Gebet, 8. freier Wille, 9. christliche Freiheit. Es geht also um die Konfrontation des sündigen Menschen mit dem gerechten Gott durch Gesetz und Evangelium, um das von diesem Gott für den Menschen gewirkte, ihm im Evangelium zugeeignete und vom Menschen im Glauben ergriffene Christusheil sowie um den christlichen Lebensvollzug im Gegenüber zu Gott und Welt.

Der zweite Hauptteil (VD16 B 6909 a 1r–hh 4v; EKO 11,206–279) bietet diese Lehre in Form von Andreas Osianders Predigten über den Kleinen Katechismus Martin Luthers. Eingeleitet werden die Katechismuspredigten durch eine neue kurfürstliche Vorrede. Behandelt werden vier Katechismusstücke (1. Zehn Gebote, 2. Apostolisches Glaubensbekenntnis, 3. Vaterunser, 4. Sakramente) wobei der Dekalog in zehn Predigten (entsprechend der Zehnzahl der Gebote), das Apostolikum in drei Predigten (Schöpfung, Erlösung, Heiligung), das Vaterunser in sieben Predigten (entsprechend der Siebenzahl der Bitten) und die Sakramente in drei Predigten (Taufe, Buße, Abendmahl) behandelt werden. Als Abschluss jeder Predigt wird der entsprechende Passus aus Luthers Kleinem Katechismus von 1529 wörtlich zitiert, sodass dieser Text Bestandteil der Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 ist. Dieser zweite Teil der Kirchenordnung konnte als Vorlage und Anregung für Prediger dienen, worauf auch Randnotizen aus dem 16. Jahrhundert in erhaltenen Exemplaren der Kirchenordnung hinweisen.

Der dritte Hauptteil (VD16 B 6909 A 1r–Aaa 4v; EKO 3,51–88) enthält vor allem die gottesdienstlichen Ordnungen. Eingeleitet wird er von einer »Vorrede von den Sakramenten und Zeremonien«, die Georg III. von Anhalt beisteuerte und die die den Gottesdienst und seine sakramentalen und zeremoniellen Vollzüge im Sinne der Wittenberger Theologie definiert. Die kirchliche Praxis hat sich an den neutestamentlichen Vorgaben zu orientieren, was vor allem heißt, dass der Gottesdienst als Zueignung des göttlichen Heils durch Wort und Sakrament zu verstehen und zu feiern ist. Als Sakrament gelten nur Taufe und Abendmahl, weil nur sie die drei Kriterien (Einsetzung durch Christus, äußeres Zeichen, damit verbundene Heilszusage) erfüllen. Davon unterscheiden sich die Zeremonien, die einerseits von der Bibel her kritisch zu prüfen sind, andererseits als der Leiblichkeit des Menschen entsprechende Hilfsmittel gelten, die im Interesse der Einheitlichkeit kirchlichen Lebens reglementiert werden dürfen. Das geschieht in Form der auf die Vorrede folgenden agendarischen Ordnungen, die bis ins Einzelne hinein den Vollzug von Taufe, Konfirmation, Beichte, Hauptgottesdienst, Krankenkommunion, Begräbnis und Eheschließung regeln. Dem Formular für den Tauf- und den Messgottesdienst sind theologisch-liturgische Reflexionen über das Sakrament der Taufe und des Abendmahls vorangestellt, die sachlich der Sakramentstheologie Luthers entsprechen. Eine Art Anhang zu den agendarischen Ordnungen bilden die Übersichten zu kirchlichen Festen und Fastenzeiten. Der agendarische Teil der Brandenburgischen Kirchenordnungen legt das Gottesdienstverständnis der Wittenberger Reformation zugrunde und lehnt sich vielfach an reformatorische Vorbilder an. Allerdings wurden auf Betreiben des Kurfürsten an manchen Punkten in weiterem Umfang als im Einflussbereich der Wittenberger Reformation üblich spätmittelalterliche Formen beibehalten, was der Brandenburgischen Kirchenordnung mit anderen lutherischen Kirchenordnungen durchaus gemeinsam ist und auch ihren evangelischen Charakter nicht in Frage stellt.

Zwei weitere Bereiche kirchlichen Lebens werden im dritten Hauptteil geregelt: das Schulwesen, dem nur einige wenige Zeilen gewidmet sind, und die diözesanbischöfliche Kirchenleitung. Auch die Beibehaltung der diözesanbischöflichen Strukturen entspricht Luthers Anregungen; entscheidend war die von den Diözesanbischöfen geforderte Anerkennung der Kirchenordnung und damit die Unterordnung unter das landesherrliche Kirchenregiment. Indem die Kirchenordnung einen dem Kurfürsten verpflichteten Generalsuperintendenten und Visitatoren voraussetzt, wird die diözesanbischöfliche Verwaltungsstruktur zudem durch eine dem Landesherrn verpflichtete alternative Verwaltungsstruktur ergänzt, die sich im Laufe der 1540er Jahre an die Stelle der diözesanbischöflichen schob. Die Kirchenordnung enthält keine Regelungen für die Kollegiatstifte und Klöster.

Das kurfürstliche Schlusswort (VD16 B 6909 Aaa 1v–2r; EKO 3,89) unterstreicht den Charakter der Kirchenordnung als aus religiöser Verantwortung erlassenem landesherrlichem Religionsgesetz. Die Bestätigung des Brandenburger Bischofs Matthias von Jagow (VD16 B 6909 Aaa 3r–4v; EKO 3,89f.) bekennt sich zum reformatorischen Verständnis des bischöflichen Amts und erkennt die Gültigkeit der vom Kurfürsten erlassenen Kirchenordnung an. Der Bischof fordert alle ihm unterstehenden Geistlichen zur Anerkennung der Kirchenordnung und zur Ausübung ihres Amts in deren Sinne auf. Das am Ende des Buchs stehende, dem auf dem Titelblatt abgedruckten kurfürstlichen korrespondierende bischöfliche Wappen zeigt, dass die Ordnung im Namen des weltlichen wie des geistlichen Oberherrn ergeht.