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Der Berliner Unwille

Der Berliner Unwille

 

Knut Schulz

 

Verlauf der Unruhen und Zusammenhänge

Die gegen 1200 gegründete und 1237/41 erstmals urkundlich erwähnte Doppelstadt Berlin-Cölln an der Spree erfuhr durch die Ausstattung mit ansehnlichem Landbesitz und durch die Verleihung vorteilhafter Privilegien seitens der askanischen Markgrafen einen raschen Aufstieg. Dazu trugen auch die guten Verkehrsverbindungen über die Spree, Havel und Elbe nach Hamburg zur Nordsee sowie gen Osten auf einem kürzeren Landweg dann über die Oder nach Szczecin (Stettin) zur Ostsee und somit in den Hanseraum bei. Auf dieser Grundlage erlangte Berlin-Cölln im Laufe des 14. Jahrhunderts als prosperierende Bürger- und Handelsstadt in der Mittelmark auch politisch eine Vorrangstellung. Deshalb zeigten die neuen Dynastengeschlechter, die den Askaniern nach 1320 folgten, nämlich die bayerischen Wittelsbacher von 1323 bis 1373 und dann, u. a. mit Kaiser Karl IV., die Luxemburger von 1373 bis 1411, ein Interesse an dieser zentral gelegenen und gut vernetzten Stadt von 6.000 bis 7.000 Einwohnern. In diesen militärisch turbulenten und wirtschaftlich krisenhaften 100 Jahren nahmen die brandenburgischen Städte – mehrfach mit Berlin-Cölln an der Spitze – eine für die Markgrafschaft stabilisierende Funktion wahr und ergriffen selbstständig Initiativen, wie es einige Städtebünde zeigten.

Mit den Hohenzollern, die bereits 1411 vom Kaiser zu »Verwesern« der Markgrafschaft Brandenburg ernannt worden waren, kehrte bis 1414 nach einigen militärischen Erfolgen im Land zunehmend wieder Stabilität ein, anfangs durchaus auf der Grundlage einer Kooperation der Markgrafen mit den Städten, wenn auch nur vorübergehend. Als nämlich spürbar wurde, dass die neuen Landesherren eine zentrale Herrschaftsausübung anstrebten, schlug das Pendel um. 1430 und erneut 1443 beschlossen Lübeck und die Hanse dagegen erste militärische Abwehrmaßnahmen in Abstimmung mit den alten Hansestädten Berlin und Frankfurt (Oder), 1431 erneuerten die Städte der Mittelmark ihren Bund gegen den Landesherrn und 1432 überwanden Berlin und Cölln ältere Rivalitäten und vereinbarten den weitgehenden Zusammenschluss der beiden Teilstädte zwecks Stärkung ihrer Position. Die »Gewerke« genannten Zünfte folgten diesem Beispiel nicht, sondern blieben getrennt bestehen, vor allem die dominanten »Viergewerke« der Bäcker, Fleischer, Schuhmacher und Tuchmacher. Als 1440 anlässlich der in Form und Aussage umstrittenen Huldigung der Stadt gegenüber Friedrich II. und 1447 durch dessen Herbeiführung eines Fürstenbundes gegen die Städte klarer erkennbar wurde, dass die alten Rechte und Freiheiten der Bürger stark eingeschränkt werden sollten, kam es zu Protesten und Unruhen. Geschickt verstand es der Landesherr, die innerstädtischen Spannungen zwischen Ratsgeschlechtern und Viergewerken auszunutzen, indem er die Rolle des Schiedsrichters wahrnahm. In dieser Konfliktsituation sah sich der Rat veranlasst, die Schlüssel zu den vier Stadttoren dem Landesherrn auszuhändigen, sodann zurückzutreten, die Vereinigung der beiden Teilstädte entsprechend der Forderung der Viergewerke wieder rückgängig zu machen und ein Bestätigungsrecht des Markgrafen bei den Ratswahlen hinzunehmen. Außerdem wurde die Beteiligung der Viergewerke und der Gemeinde am Rat ins Auge gefasst, womit das innerstädtische Konfliktpotential zweifellos eine Stärkung erfuhr. Auswärtige Bündnisabsprachen wurden aufgelöst bzw. untersagt.

Dies alles führte, wie absehbar, sehr bald zu neuen Unruhen, was nach einer späteren Quellenaussage den Kurfürsten veranlasst habe, mit 600 Berittenen vor der Stadt zu erscheinen, sich die Tore öffnen zu lassen und am 29. August 1442 einen Vertrag zu formulieren, den man als »Unterwerfung« bezeichnen kann. Erst einmal war ein großes Areal an der Cöllner Stadtmauer an ihn abzutreten, um darauf seinen Herrschaftssitz, das Schloss, zu errichten. Weiterhin hatte die Stadt das gemeinsame Rathaus auf der Langen Brücke an den markgräflichen Hofrichter zu übergeben und auf die Hohe Gerichtsbarkeit und das einträgliche Stapelrecht (Niederlagsrecht) zu verzichten. Außerdem versprachen sie to ewigen tyden […] willige underdenige und gehorsame borger und undersaten sein und bliven zu wollen. Im Gegenzug bestätigte ihnen der Kurfürst den Besitz des von den Johannitern 1435 erworbenen Tempelhofes mit Rixdorf (Neukölln), Marienfelde und Mariendorf, allerdings vorbehaltlich der ihm zustehenden landesherrlichen Rechte.

In dem Maße, in dem der Markgraf nun Stück um Stück von der Stadt Besitz ergriff, formierte sich der »Berliner Unwille«. An der Jahreswende 1447/48 kam es zu offenen Feindseligkeiten, die Bürger fluteten eine Teil des Bauplatzes des Schlosses, errichteten einen Blockzaun an der Stelle der für den Neubau teilweise abgerissenen Stadtmauer, vertrieben oder verhafteten markgräfliche Amtsträger, ja sie drangen gewaltsam in die landesherrliche Kanzlei ein und vernichteten dort wichtige Dokumente. Auch versuchten sie erneut, Bündnisse gegen Friedrich II. zu schließen, allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Der Landesherr brachte hingegen eine bedrohliche Koalition zusammen, sodass Berlin-Cölln am 25. Mai 1448 auf dem sogenannten Teyding, der Gerichtsverhandlung, erscheinen musste, auf der der Bischof von Brandenburg, einige Grafen und Städte eine Vermittlerrolle wahrnahmen. Am 18. Juni sahen sich Berlin-Cölln dann gezwungen, der »Unterwerfung«, dem sogenannten mußbrieff zuzustimmen. Darin berief man sich auf die Beschlüsse von 1442, sodass man letztlich auf diese beiden älteren Texte zurückgreifen muss, will man das Geschehen und die veränderten Bedingungen der nun landesherrlich bestimmten Stadt verstehen. Allerdings finden sich 1448 zwei gewichtige Ergänzungen in den Vertragsvereinbarungen. Die erste betrifft weitere Abtretungen städtischer Rechte an den Landesherrn, nämlich derjenigen an den Mühlen und Zöllen. Darüber hinaus wurde nun Anklage gegen die führenden Ratsgeschlechter erhoben, die zu hohen Geldstrafen verurteilt wurden und zum Teil ihren Lehnsbesitz einbüßten, was später jedoch in vielen Fällen revidiert wurde.

Der Frage der Lehen kam deshalb eine hohe Bedeutung zu, weil von ihr das wirtschaftliche Gedeihen der Stadt in starkem Maße abhing, da die reichen, aber auch manche ärmeren Bürger (pauperes cives) ihr Getreide, siligo que dicitur de Berlyn, nachweislich nach Hamburg und Flandern gewinnbringend zum Verkauf brachten (vergleiche die Artikel über das »Hamburgische Schuldbuch von 1288« und über das »Landbuch Karls IV. von 1375«). Die darin zum Ausdruck kommende enge und schon lange bestehende Verbindung von Berlin-Cölln zur Hanse, nunmehr auch als Bündnis zur Verteidigung der bürgerlichen Autonomie, hatte, so sahen es die Berliner, in der schweren Krise von 1447/48 kläglich versagt. Alle an diese gerichteten Hilfegesuche seien ins Leere gegangen und der Schaden für die Hansestadt Berlin-Cölln sei umso größer geworden, so schrieb man mit dem Ton der Verbitterung 1452 an Lübeck. Allerdings wurde der darin erklärte Austritt aus der Hanse endgültig erst 1518 vollzogen. Aber auswärtige Beziehungen und Bündnisabsprachen unterlagen nun der Kontrolle des Markgrafen, der zwar die Zügel gegenüber der Stadt bald wieder lockerte, aber das konkurrierende Kräftespiel zwischen Rat und Viergewerken gut für seine Zwecke nutzte.

Seinen Sieg über die unterworfene Stadt hat er seinem Plan entsprechend stolz nach außen bekundet. Die Kontrolle über den Zugang zur Stadt, die Errichtung der Residenz, über deren Charakter als »Zwingburg« (frenum/fraenum antiquae libertatis) man allerdings streiten kann, die Umwandlung des gemeinsamen Rathauses auf der Langen Brücke in den Amtssitz des landesherrlichen Richters gehörten ebenso dazu wie das Verbot des Abschlusses eigener Bündnisse, die Kontrolle und Korrektur der Ratsbesetzung und die Aberkennung der zentralen Hoheitsrechte, also von Gerichtsbarkeit, Stapel-, Münz-, Mühlen- und Zollrecht, womit wichtige Einnahmen und das städtische Selbstbewusstsein verbunden waren. Besonders ausdrucksstark war die Veränderung des Berliner Siegels. Seitdem saß der mächtige fürstliche Adler flügelspreizend mit seinen übergroßen Fängen auf dem Rücken des Berliner Bären, der unter dieser Last seine Zunge weit heraushängen ließ.

Ausblick

All dies sollte wohl zugleich eine Warnung für andere und ein Zeichen dafür sein, wohin die Reise gehen würde und tatsächlich ging. Gewiss hat sich manches bald wieder eingependelt, die Residenzbildung – wenn auch nur langsam und mit einigen Rückschlägen – Impulse vermittelt und letztlich, allerdings erst 250 Jahre später, also seit etwa 1700, den Aufstieg Berlin-Cöllns eingeleitet. Heute zeigt man mit der intensiv betriebenen Residenzforschung und durch die allenthalben erfolgende Rekonstruktion bzw. Restauration und Neugestaltung von Schlössern, Parks und Residenzlandschaften oft eine Bewunderung für die Schönheit der alten Fürsten- und Adelskultur. Die Berliner waren lange Zeit bezüglich der Wiedererrichtung des Residenzschlosses geteilter Meinung. Inzwischen jedoch findet die Konzeption als »Humboldt-Forum« überwiegend eine positive Resonanz, während die Erinnerung an die dynastische Tradition stark in den Hintergrund gerückt ist.

Das Urteil über die Ereignisse von 1448 fiel bei Historikern, Schriftstellern, Künstlern und Politikern, besonders des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sehr unterschiedlich aus. Es schwankte zwischen der Klage über den Verlust der Bürgerfreiheit und der Begrüßung des Nationalstaats mit seiner neuen Hauptstadt. Diese Diskussion lässt sich an der einst im Berliner Stadtbild vorhandenen Figur des Rolands exemplifizieren. Der um die Mitte des 19. Jahrhunderts viel gelesene Schriftsteller Willibald Alexis hat in seinem berühmt gewordenen Roman »Der Roland von Berlin« die Erinnerung an diese Ereignisse wiederbelebt und zur Frage nach ihrer Bewertung angeregt. Der Kurfürst habe nach seinem Sieg über die Doppelstadt Berlin-Cölln dieses Symbol bürgerlicher Anmaßung zerstören und zerstückelt in die Spree werfen lassen – so die literarische Gestaltung dieser sagenhaft kolportierten Überlieferung durch Alexis. Immerhin hat seine Schilderung der Ereignisse von 1442–1448/51 seit 1840 zügig zehn Auflagen erlebt und ist als Schauspiel (1905) sowie als Oper (von Ruggiero Leoncavallo, 1904) auf die Bühne gelangt. Auch im Stadtbild Berlins hat der Roland in diesen Jahren wieder seinen Platz gefunden, sei es mit der Errichtung des Rolandsbrunnens auf dem Kemperplatz 1902 oder mit der Nachbildung des Rolands der Neustadt Brandenburg vor dem Märkischen Museum 1905. Nachhaltiger als der auch heute noch verlegte Roman und die bildhafte Darstellung der Rolandsfigur hat aber wohl die Einschätzung durch die Historiker gewirkt, bis hin zu der Behauptung von Eckhard Müller-Mertens, dass 1448 in Berlin »dem Territorialfürstentum erstmals ein durchschlagender Sieg gegenüber der städtischen Autonomie gelang«. Mag dieses Urteil auch überspitzt und chronologisch nicht ganz gerechtfertigt erscheinen, so ist doch Kurfürst Friedrich II. von der Konzeption und Entschlossenheit her ein wichtiger Promotor des nun verstärkt einsetzenden Umbruchprozesses von der spätmittelalterlichen Stadtfreiheit zum frühneuzeitlichen Landesfürstentum gewesen.