Erzbischof Wichmanns Privileg für Jüterbog von 1174
Erzbischof Wichmanns von Magdeburg Privileg für Jüterbog von 1174 als Schlüsselquelle für den frühen hochmittelalterlichen Landesausbau östlich der mittleren Elbe
Winfried Schich
Zum Inhalt der Urkunde
Eingangs liefert Erzbischof Wichmann von Magdeburg die Begründung für den folgenden Rechtsakt der Privilegierung von Jüterbog. Wichmann wollte demzufolge erreichen, dass sein Vorhaben, das Land auszubauen, sich freier entfalte und der Effekt sich bei den Bewohnern (incolae) des Landes und insbesondere bei allen Neusiedlern (habitatores) deutlicher zeige.[1] Er hatte zum Zeitpunkt der Ausstellung der Urkunde den Landesausbau mit Hilfe von Zuwanderern aus dem Westen, nicht zuletzt aus Flandern, bereits eingeleitet.[2] Wichmann gewährte den Bürgern von Jüterbog die Freiheit des Magdeburger Stadtrechts und verbesserte dieses für sie noch dadurch, dass er sie von der vare befreite, das heißt von der Gefahr des gerichtlichen Prozessverlustes im Fall der Nichteinhaltung der streng förmlichen Verfahrensregeln.[3]
Wichmann wollte nicht nur die Stadt Jüterbog fördern, sondern das ganze Land ausbauen und neu strukturieren. Deshalb sollten zusätzlich im Land Marktorte gegründet werden, die sich nach dem in Jüterbog geltenden Marktrecht richteten. Vor allem dieser Satz macht die Urkunde von 1174 zur »Schlüsselquelle« für den Landesausbau östlich der Elbe. Sie zeigt, dass das lokale Marktrecht der Kern des Magdeburger Stadtrechtes war und dass diese Tatsache es erlaubte, mit ihm ein Netz zentraler Orte zu bilden, das sich aus einem erstrangigen Landeshauptort und zugeordneten Marktorten zweitrangiger zentralörtlicher Qualität zusammensetzte.
Die Marktorte (fora, villae fori, villae forenses) waren, wie vor allem Walter Schlesinger gezeigt hat, nach Marktrecht als einer frühen und einfachen Form städtischen Rechts verfasst.[4] Die Besitzer eines Grundstücks (area) am Markt(platz) bzw. im Markt(ort), das sie nach freiem Erbrecht erhalten hatten, durften gegen Entrichtung fester Abgaben frei leben und frei ihrer Betätigung in Handel und Gewerbe nachgehen. Dieses Marktrecht beinhaltete zudem ein gewisses Maß an Selbstverwaltung der in einer Gemeinde zusammengeschlossenen ortsansässigen Kaufleute und Handwerker, und dies vor allem in den Handel und Gewerbe betreffenden Angelegenheiten. In der Mark Brandenburg bezeichnete man im 13. Jahrhundert derartige Siedlungen im Unterschied zur vollentwickelten Stadt (civitas) als oppidum, zu deutsch später als »Städtchen«.
Zum Marktrecht gehörte die Erhebung des Marktzolls von Auswärtigen. Auf diese Tatsache bezieht sich das Wörtchen aber (autem) im folgenden Satz: Die Händler aber, die aus Magdeburg, Halle, Calbe, Burg und Taucha nach Jüterbog kamen, werden von dem hier zu entrichtenden Zoll befreit, ebenso wie umgekehrt die Jüterboger von dem an jenen Plätzen erhobenen Zoll. Bei den betreffenden Orten handelte es sich um bereits bestehende magdeburgische Städte bzw. Marktorte, deren wirtschaftliche Entwicklung Wichmann in unterschiedlicher Weise ebenfalls förderte.[5] Mit dem Jüterboger Privileg wollte er den Markt- und Handelsverkehr im gesamten magdeburgischen Territorium ausbauen, im Besonderen den Anschluss des neuen Landes östlich der Elbe über den Hauptort Jüterbog an die weiter entwickelten Regionen im Westen herstellen.
Danach wendet sich Wichmann in der Urkunde wieder dem Land Jüterbog zu, dessen Anfang und Haupt (exordium et caput provinciae) die Stadt Jüterbog sein sollte. Nachdem in diesem Land lange das Heidentum geherrscht hatte, war es mit Gottes Hilfe und durch Wichmanns Arbeit ein christliches Land geworden, in dem an den meisten Orten Gott der schuldige Dienst erwiesen wird. Nach dieser Formulierung zu urteilen, scheint es gewisse nichtchristliche »Inseln« im Land noch gegeben zu haben. Den bisherigen und künftigen Neusiedlern versprach Wichmann Sicherheit und Wohlfahrt. Er rechnete also mit weiterer Zuwanderung.
Schließlich gewährte der Erzbischof den Jüterboger Bürgern noch die Weiden, die sie nutzen durften, und zwar nach Norden in Richtung Zinna, nach Süden jenseits der Flamen- und Rutenitzbrücke und nach Westen gemeinsam mit den Burgmannen. Jüterbog setzte sich also zu der Zeit zusammen aus Marktort (villa, zu ergänzen fori) und Burgort (urbs). Die Gestalt einer civitas hatte Jüterbog noch nicht. Mit dem Begriff civitas wird in der Urkunde die künftig nach Magdeburger Recht verfasste Stadt mit ihrer zentralörtlichen Funktion als Landeshauptort angesprochen, zu der auch der Anschluss an den Fernhandel gehörte.
Die beeindruckend lange Reihe von geistlichen und weltlichen Persönlichkeiten, die Wichmann als Zeugen hinzuzog, mit den Bischöfen von Brandenburg und Meißen sowie Markgraf Otto I. von Brandenburg und dessen Bruder Graf Bernhard von Aschersleben, Albrechts des Bären jüngstem Sohn, an der Spitze, lässt erkennen, welche Bedeutung der Rechtsakt für den Erzbischof hatte.
Der Ausbau des Landes Jüterbog unter Erzbischof Wichmann
Der Magdeburger Erzbischof hatte Markgraf Albrecht den Bären bei seinen Bemühungen um die Wiedergewinnung der Fürstenburg Brandenburg an der Havel unterstützt.[6] Albrecht hatte nach dem Tod des letzten slawischen Fürsten, Pribislaw-Heinrich, 1150 die Burg besetzt, war wenig später aber von dem slawischen Fürsten Jaksa von Köpenick vertrieben worden. 1157 hatte Albrecht mit bewaffneter Hilfe Wichmanns die Brandenburg zurückgewonnen. Er selbst und seine Nachfolger richteten ihre Expansionsbestrebungen in nördliche und östliche Richtung. Vermutlich ließen die Markgrafen dem Erzbischof freie Hand im Raum westlich und südlich von Brandenburg.
Die Gegend von Jüterbog war in slawischer Zeit nur locker besiedelt.[7] Westlich der mittelalterlichen Stadt ist eine slawische Burg archäologisch nachgewiesen. Der Ortsname Jüterbog reicht ebenfalls in die slawische Zeit zurück.[8] Der Ort zeichnete sich vor allem durch seine Lage an einem Übergang der wichtigen Fernstraße von Magdeburg nach Schlesien über die Nuthe-Niederung aus. Auf diesen Übergang weist wohl auch der Name Brodeze (von Brod = Furt) des einstigen Ortes am gegenüberliegenden Ufer der Nuthe hin.[9] Als Etappenstation an der genannten Straße findet Jüterbog überhaupt zum ersten Mal Erwähnung, als der polnische Herzog Boles?aw Chrobry im Winter 1007/08 einen Feldzug gegen Magdeburg unternahm.[10]
Den Burgort in verkehrsgünstiger Lage baute Wichmann zum Hauptort des Landes aus. Hier erhielten die Landeshauptburg mit Vogteisitz und die Hauptkirche (principalis ecclesia) des Landes, die Pfarrkirche St. Marien, ihren Platz. Zu den ersten (1161/74) namentlich genannten Dörfern bei Jüterbog gehörten Dike und Rothe, Rutnizze und Brodeze sowie Rothwines- und Gerhardestorph.[11] Die Gattungsortsnamen Dike und Rothe für jeweils eine Siedlung auf neu kultiviertem Land, das einerseits durch Trockenlegung und andererseits durch Rodung gewonnen worden war, bieten einen Hinweis auf die Anfänge des Landesausbaues im ländlichen Bereich.[12] Die Erwähnung der von der villa (fori) Jüterbog nach Süden führenden Flamenbrücke (pons Flamigorum) in unserer Urkunde bezeugt, dass sich Neusiedler aus Flandern vor 1174 in dieser Gegend niedergelassen hatten.
Bereits 1170 hatte Wichmann im Randbereich des slawischen Siedlungsgebietes das Zisterzienserkloster Zinna gegründet.[13] Die Mönche kamen aus der in der Erzdiözese Köln gelegenen Zisterze Altenberg. Die Zisterzienser mit ihrer in Eigenregie geführten Wirtschaft wurden in dieser Zeit häufig mit zum Landesausbau herangezogen. Sie konnten, sobald sie ihre Klosterwirtschaft mit Eigenbauhöfen (Grangien) und Klosterdörfern aufgebaut hatten, als Großanbieter von Agrarprodukten auf dem Markt auftreten.
Südöstlich von Jüterbog erstreckte sich die Hochebene des Niederen Flämings, die mangels Wasserläufen und größerer Wiesenflächen in vordeutscher Zeit weithin siedlungsleer war. Hier bot sich die Gelegenheit zur flächenhaften Neusiedlung. Die dortige Bodenqualität reicht zwar bei Weitem nicht an diejenige in der Magdeburger Börde heran, doch die Sandlössböden waren für den Anbau des Brotgetreides Roggen gut geeignet. Mit dem von Wichmann eingeleiteten Landesausbau begann die Kultivierung der Hochfläche beiderseits der Straße von Jüterbog nach Dahme, die seitdem intensiv ackerbaulich genutzt wird. Seit dieser Zeit kann der (gewiss jüngere) Spruch »Fläming, arm an Born, reich an Korn« die Situation der quellenarmen Hochebene treffend charakterisieren.[14]
Getreide war in der Zeit mit einer an Zahl rasch wachsenden Bevölkerung eindeutig das wichtigste Agrarprodukt. Im Raum östlich der mittleren Elbe stand unter den Getreidearten Roggen an erster Stelle. Einen Hinweis auf die gezielte Suche nach geeigneten Ackerböden bietet eine Urkunde Wichmanns von 1185, mit der er dem Kloster Nienburg an der Saale im Land Jüterbog 100 Hufen nach flämischem Maß verlieh, die nebeneinander liegen und fruchtbar für den Anbau von Getreide sein sollten.[15] Der bereits vor 1174 eingeleitete Landesausbau erhielt mit der Privilegierung Jüterbogs gewissermaßen seine Krönung. Die entscheidende wirtschaftliche Grundlage für den Aufbau Jüterbogs bildeten die Lage des zentralen Ortes am Übergang einer erstrangigen Fernstraße über eine Flussniederung und die Kultivierung der benachbarten Hochebene mit ihren guten Getreideböden.
Die Privilegierung Jüterbogs bedeutete die erste Übertragung des Rechtes der seit dem 10. Jahrhundert herangewachsenen civitas Magdeburg, der Erzbischofs- und Fernhandelsstadt an der Ostgrenze des Reiches, auf den Hauptort (exordium et caput) eines Landes, der zur civitas, das heißt zur Stadt im vollen Sinn, ausgebaut wurde. Eine solche Stadt war Jüterbog 1174 noch nicht. Dies zeigt deutlich der Passus mit der Beschreibung der Weiden, die den Bürgern zur Nutzung überlassen wurden. Diese ging von der villa (zu ergänzen: fori) Jüterbog aus. Die jenseits der westlichen Brücke zwischen villa und Burg gelegenen Weiden sollten die Bürger gemeinsam mit den Burgmannen (urbani) nutzen. Zur villa (fori) Jüterbog gehörten die cives, zur urbs Jüterbog die urbani. Die Wirtschafts- und die Schutzfunktion waren zwischen Marktort und Burgort noch räumlich und personell getrennt. Erst in der Folgezeit bis in das 13. Jahrhundert entstand die geschlossene und wehrhafte Bürgerstadt (civitas), für die eine Reihe umliegender Dörfer aufgelassen wurde.
Die frühen Marktorte orientierten sich häufig an den Fernhandelsrouten. Ein erster zusätzlicher Marktort im Land Jüterbog wurde unmittelbar jenseits des Übergangs über die Nuthe-Niederung errichtet: der bis 1950 selbständige Ort Neumarkt. Das zuerst 1218 bezeugte Novum Forum diente als Brückenkopf gegenüber dem älteren Markt an der alten Fernstraße.[16] Er setzte in »moderner« Form die Funktion des voraufgehenden slawischen »Furtortes« Brodeze fort, der in Neumarkt aufging.
Als nächster von Wichmann geplanter Marktort kann Dahme vermutet werden. Wichmann erwarb nämlich um 1185 das Land Dahme, das nur dünn besiedelt war, gezielt durch Tausch, allem Anschein nach mit dem Ziel, das magdeburgische Land Jüterbog durch Ausbau entlang dieser Straße zu erweitern.[17] Während die später nachweisbare Straßenverbindung zwischen Magdeburg und Breslau streckenweise einen unterschiedlichen Verlauf nahm, wurde zwischen Jüterbog und Dahme stets dieselbe Route benutzt.[18] Die Strecke hatte einen naturbedingten und infrastrukturellen Vorzug: Sie führte über eine weite besiedelte Hochfläche.
Die Bedeutung des städtischen Marktes für die »moderne« hochmittelalterliche Wirtschaft und Siedlung
Die bäuerlichen Neusiedler erhielten vermessene und frei vererbbare Hufen, von denen sie fixierte Abgaben in Getreide oder Geld als Grundzins und Zehnt zu entrichten hatten. Auch die meisten bestehenden slawischen Dörfer wurden früher oder später entsprechend umgestaltet. Die Bauern konnten frei wirtschaften und ihre Überschüsse auf den Markt bringen. Herrschaftlich privilegierte Marktorte sollten und konnten den Warenverkehr lenken und dem Marktherrn finanziellen Gewinn bringen.
Das Gegenstück zu Wichmanns Förderung des »freien Marktes« im Sinne der Zeit war seine Münzpolitik.[19] Der Magdeburger Erzbischof war für seine häufigen Münzverrufungen bekannt – bis zu zweimal im Jahr, was dem Chronisten zufolge bis dahin nicht üblich war. Die Münzen, von denen sich überaus zahlreiche bis heute erhalten haben, waren für den Markt bestimmt. Die Marktgründungen mit den fälligen Marktabgaben dienten dem Herrn letztlich ebenso zur Geldbeschaffung wie die Münzprägungen mit dem einbehaltenen Schlagschatz. Wichmann stellte das Geld zur Verfügung und bewog zuerst die Neusiedler, sich dieses auf dem Markt zu beschaffen, um damit ebendort notwendige und durch das dortige Warenangebot neu geweckte Bedürfnisse zu befriedigen und mit dem darüber hinaus erzielten Geldgewinn Abgaben entrichten zu können, zu denen sie gegenüber der Herrschaft verpflichtet waren. Wichmann nutzte zielstrebig die Geldwirtschaft, die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts einen fortgeschrittenen Stand erreicht hatte. Zum hochmittelalterlichen Landesausbau, der zur »Verbesserung des Landes« (melioratio terrae) führte, war die städtische Komponente, das heißt die wirtschaftliche Ausrichtung auf die städtischen Märkte, unabdingbar. Es ist also nicht richtig, wenn wie so oft beim Begriff Landesausbau für diese Zeit der Blick allein auf die ländliche Besiedlung gerichtet wird.
[1] Vgl. allgemein zum Folgenden besonders Walter Schlesinger, Forum, villa fori, ius fori. Einige Bemerkungen zu Marktgründungsurkunden des 12. Jahrhunderts aus Mitteldeutschland, in: ders., Mitteldeutsche Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Göttingen 1961, S. 275–305 (zu habitatores S. 275); Winfried Schich, Die Anfänge der aedificatio provinciae Jüterbog, eines Landes an der Straße von Magdeburg nach Schlesien, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 151 (2015), S. 121–142. Hier finden sich auch weitere Belege.
[2] Dietrich Claude, Geschichte des Erzbistums Magdeburg bis in das 12. Jahrhundert, T. 2 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 67, 2), Köln/Wien 1975, S. 109–112; Schich, Die Anfänge.
[3] Schlesinger, Forum, villa fori, S. 276; Claude, Geschichte des Erzbistums, S. 106.
[4] Schlesinger, Forum, villa fori.
[5] Claude, Geschichte des Erzbistums, T. 2, S. 128–137.
[6] Claude, Geschichte des Erzbistums, T. 2, S. 94–100.
[7] Günter Mangelsdorf, Abriß der Besiedlungsgeschichte des Niederen Flämings, in: Gerhard Schlimpert, Die Ortsnamen des Kreises Jüterbog-Luckenwalde (Brandenburgisches Namenbuch, T. 7), Weimar 1991, S. 7–39, hier S. 14–19.
[8] Schlimpert, Die Ortsnamen, S. 73–75 u. 209.
[9] Ebd., S. 50.
[10] Claude, Geschichte des Erzbistums Magdeburg bis in das 12. Jahrhundert, T. 1 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 67, 1), Köln/Wien 1972, S. 254–262.
[11] Friedrich Israël/Walter Möllenberg (Bearb.), Urkundenbuch des Erzstifts Magdeburg, T. 1 (937–1192) (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, N.R., Bd. 18), Magdeburg 1937 (künftig zitiert: UBEM), Nr. 344.
[12] Schlimpert, Die Ortsnamen, S. 57 u. 109.
[13] UBEM, Nr. 322.
[14] Schich, Die Anfänge.
[15] UBEM, Nr. 405.
[16] Schlimpert, Die Ortsnamen, S. 97f.
[17] Claude, Geschichte des Erzbistums, T. 2, S. 100–105.
[18] Friedrich Bruns/Hugo Weczerka, Hansische Handelsstraßen. Textband (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, N.F., Bd. 13,2), Weimar 1967, S. 555.
[19] Matthias Puhle, Zur Münzpolitik Erzbischof Wichmanns, in: ders. (Hrsg.), Erzbischof Wichmann, S. 2–19, bes. S. 8.